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Die russische Revolution von 1917 ist heute, nach fast 100 Jahren, immer noch ein allgemein fast völlig unverstandenes Ereignis; auch jetzt noch, nachdem sie längst aufgehört hat, sich fast tyrannisch als Vorbild für jede künftige Umwälzung aufzudrängen.
Sie hat, an einem für die Menschheit entscheidenden Wendepunkt, die bisherige Ordnung erschüttert, ohne sie auflösen zu können, und damit statt der bisherigen Herrschaft eine neue Herrschaft hervorgebracht. Gleichzeitig mit dieser Herrschaft sind verschiedene Legenden über diese Revolution entstanden, die die tatsächlichen Ereignisse bis zu einem Punkt überdeckt haben, wo sie sie wirklich überlagern und ersetzen.
Und das ist nicht etwa ein historischer Zufall. Im Gegenteil gehört diese merkwürdige Erscheinung im Innersten zu der Ordnung, wie sich nach der Revolution von 1917 und ihrem Scheitern durchgesetzt hat. Es gibt so viele offizielle Lügen über 1917, wie es streitende Parteien gibt, die um die Wiederherstellung der Ordnung seither kämpfen; und diese Legenden teilen Aufstieg und Niedergang mit den Parteien, denen sie gehören.
Die einzige Sache, die von keiner Partei vertreten werden kann, ist dabei aber die Revolution selbst. Diese Sache muss sich selbst vertreten, und ihre Wahrheit kann nur von ihr selbst gefunden werden. Solange sie abwesend ist, lassen sich über die Wahrheit von 1917 nur Vermutungen anstellen.
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Daniel Kulla hat nun neuerdings eine neue Entdeckung der Ereignisse von 1917 vorgeschlagen. Er zieht mit diesem Vortrag seit einiger Zeit über Land, mit bedauerlich wenig Resonanz, und ich kam in den Stand, mir die Sache im Kult zu Würzburg anzuhören. Nach dem Vortrag gab es eine Art Diskussion, von der ich den Eindruck bekam, dass sich die wenigsten Teilnehmer der Fragen bewusst sind, um die es geht; und so zog ich es vor, zu schweigen.
Als ich aber den Referenten, der von den Veranstaltern andeutungsweise gehört hatte, was sie glaubten, dass ich über die Sache denke, zum Zug zu bringen die Ehre hatte, nahm er mir das Versprechen ab, meine vorher irgendwann leichthin angekündigte Kritik des Vortrags tatsächlich zu schreiben, und nun, nachdem ich die Sache lange vor mir hergeschoben habe(1), muss ich es wohl tun.
Daniel Kulla stellt völlig richtig eine kleine Reihe bekannter und weniger bekannter Deutungen (Legenden) über die Ereignisse von 1917 vor und erklärt ihre Herkunft und Funktion: erstens die bolschwistische Version, zweitens die antikommunistische Version, und drittens eine Art Synthese aus den Versionen der nichtbolschewistischen revolutionären Parteien, dh. der Anarchisten, gewisser linker Menschewiki sowie der SR.
Aus der Gegenüberstellung dieser Versionen versucht er zu zeigen, dass in der Revolution von 1917 ein emanzipatives Potential bestanden hat, dass sich in der Situation der sogenannten Doppelherrschaft (zwischen der Februarrevolution und der Oktoberrevolution)(2) auch betätigt hat; an dieser zeigt er Züge dessen auf, was man seit Marx und der Commune von Paris als Diktatur des Proletariats nennen kann, nämlich die bewaffnete massenhafte Organisation der Ausgebeuteten gegen den Staat und die Ausbeutung.
Über einige Erörterungen der ungeheuer komplexen Schwierigkeiten, mit denen die Räte-Organisation in dieser Zeit konfrontiert war, leitet er zu dem Hauptthema des Vortrages über: das, was man Diktatur des Proletariats nennen dürfte, ist in der Oktoberrevolution von Lenin und Trotski nicht etwa zu schaffen versucht, sondern zerstört worden.
Dieses scheinbare Paradoxon ist mir sehr recht, solange es darum geht, es den Leninisten entgegenzuhalten. Es ist mir auch sehr recht, um des denen entgegenzuhalten, die den Kommunismus mit der bolschewistischen Ordnung gleichsetzen wollen, um sich und andere darüber zu belügen, dass Herrschaft und Ausbeutung Dinge sind, die umgestürzt werden müssen.
Es ist mir aber ansonsten, für die Selbstbesinnung wie auch die Selbstkritik aller derer, die auf nichts anderes mehr hoffen können als auf diesen Umsturz, nicht genug.
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Daniel Kulla betrachtet den Oktoberumsturz nur nach der Seite hin, dass er die autonome Macht der Räte-Organisation der bolschewikischen Partei unterworfen und damit zerstört hat. Er stellt aber nicht dar, dass dieser Umsturz dennoch zustande gekommen ist genau als eine Betätigung dieser autonomen Macht.
Die Situation der sogenannten Doppelherrschaft, wie sie vorher bestanden hatte, war, wie ich meine zeigen zu können, auf die Dauer nicht haltbar, und die revolutionären Räte hätten die Macht des Staates nicht auf Dauer neben sich dulden können. Es mag der Einfluss der menschewikischen Partei und der SR in den Räten gewesen sein, die sie davon abgehalten haben, diese Macht zu zerstören; oder auch eine gewisse innere Beschränkung.
Die Bolschewiki haben als einzige grössere organisierte Partei begriffen, dass die Situation eine innere Spannung hat, die über die Situation der Doppelherrschaft hinaus, oder hinter sie zurück in die Militärdiktatur führen muss. Sie haben es verstanden, und Trotski legt in seiner Geschichte der russischen Revolution grössten Wert darauf, die Oktoberrevolution nicht als Staatsstreich ihrer Parteiorganisation, sondern als Aufstand der Räte zu organisieren. (2a)
Sie haben unstreitig danach alles getan, um die Räte-Macht zu zerstören.
Das Bild ist also noch etwas paradoxer, als es uns Daniel Kulla bietet: die Entfaltung der Räte-Macht unter der Doppelherrschaft vollendet sich gerade in dem Akt, der ihr ein Ende setzen wird, im Oktoberumsturz.(3)
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Ein Teil des Defizits in Kullas Darstellung verdankt sich seiner mangelhaften Auseinandersetzung mit den, man muss es so nennen, Verfassungsvorstellungen der sozialistischen Parteien Russlands von vor 1917. Zwischen Lenins revolutionärer Sozialdemokratie und der Partei der SR (Sozial-Revolutionäre) war absolut unstrittig, dass auf die Revolution nicht die Diktatur des Proletariats folgen würde, sondern die „demokratische Diktatur der Arbeiter und Bauern“, ein bizarres Konstrukt, unter dem zu verstehen ist, dass die revolutionären Arbeiter und Bauern die Souveränität erobern, um sie bewusst zu keinem anderen Zweck einzusetzen, als eine bürgerliche Regierung einzusetzen und zu überwachen, die in Russland, unter wachsamer Aufsicht des souveränen Proletariats, erst einmal den Kapitalismus einführen sollte. Dieses Programm ist, wenn man sie zu Ende denkt, so derart schwachsinnig, dass man nur schwer das Lachen sich verbeissen kann, wenn man daran denkt, dass das System nach der Februarrevolution, die sogenannte Doppelherrschaft, allgemein und nicht zu Unrecht als die Verwirklichung dieser idiotischen Idee angesehen worden ist.
Die Forderung radikalerer Strömungen, die Arbeiterklasse müsse die ganze Macht übernehmen, ist innerhalb der Sozialdemokratie vor 1917 nur von Trotski vertreten worden, bis auch Lenin zu dessen Ansicht überging.(4)
Die Geduld, mit der die russischen Arbeiter die Umtriebe und Betrügereien der von ihren Repräsentanten eingesetzten Staatsregierungen(5) ertrugen, ist erstaunlich. Die provisorischen Regierungen kamen bald samt und sonders in den Ruf, nichts anderes als ebensoviele konterrevolutionäre Verschwörungen zu sein, und Besserung trat nicht einmal ein, als die Sozialdemokratie (und die SR) ihr Dogma brachen und Sozialisten in die Regierung holten.
Mit der bolschwistischen These, dass diese Situation ohne die Oktoberrevolution in eine konterrevolutionäre Militärdiktatur gemündet hätte, hat sich Daniel Kulla auch nicht auseinandergesetzt.
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Solche Fragen könnte man noch weitere erörtern, sie nehmen sich aber wie Miniaturen aus neben dem schrecklichen Pamorama, in dem sie doch nur Details sind.
Daniel Kullas Interesse scheint vor allem darin zu bestehen, eine Möglichkeit aufzuzeigen, die im Geschehen von 1917 gelegen habe, ohne sich zu verwirklichen, nämlich die Möglichkeit einer wirklichen revolutionären Entwicklung, eines siegreichen Aufstandes gegen die Herrschaft, der in sich die Errichtung einer Gesellschaft ohne Staaten und Klassen trüge.
Ich hätte nichts dagegen, wenn es gelänge. Ich fürchte nur, so einfach kann es sich der Anti-Leninismus nicht machen. Die Kritik des Leninismus darf nicht unter dem Niveau ihres Gegenstandes bleiben.
Ich frage mich, warum Daniel Kulla nicht ein paar ausnahmslos bekannte (jedenfalls in unseren Kreisen) Gedanken aufgreift, die ich jetzt nunmehr leichthin Rosa Luxenburg zuschreibe. Ich weiss mit Gewissheit, dass niemand sich je die Mühe gemacht hat, ihre Schriften zu lesen, und kann, da ich es habe, ihr also ungestraft alles unterschieben, was mir nur gerade einfällt. Ich gründe diese Dreistigkeit auf die Tatsache, dass sie jetzt schon 90 Jahre tot ist und doch alle ihre Schriften so gut wie gar nicht gelesen sind, und wenn so hervorragende Schriften von den Kommunisten 90 Jahre vollkommen ignoriert worden sind, dann sehe ich nicht, warum sie das nicht noch ein paar Monate bleiben werden. Niemand hat sie je gelesen, noch weniger verstanden, und also werde ich sicher nicht in die Verlegenheit kommen, die Schlüsse, die ich aus ihnen ziehe, vor irgendwem verteidigen zu müssen.
Rosa Luxenburg also sieht die Sache anders. Sie kritisiert das, was Lenin und Trotski angerichtet haben, vernichtend;(6) um dann an ihnen zu rühmen, die Bolschewiki hätten „es jedenfalls gewagt“!
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Luxenburgs seltsames Urteil lässt uns ohne Trost zurück. Es war 1917, und der Krieg war schon drei Jahre alt; ein Krieg, der, wie Luxenburg ausführlich in anderen Schriften anaylsiert, die Möglichkeit der menschlichen Befreiung überhaupt in Frage stellt.
Ihre Schriften nach 1914 sind von dem Bewusstsein, dass die Menschheit bereits in die Katastrofe eingetreten ist (in der wir noch leben), dass sie die historische Chance ihrer Befreiung verpasst haben könnte, geradezu durchdrungen. Niemand hat eindringlicher eine gründliche Selbstkritik des Proletariats gefordert als sie. Des Proletariats, nicht einer Partei oder Tendenz; denn das Versagen von 1914 war, und auch das hat niemand deutlicher formuliert als sie, nicht das Versagen dieser oder jener Partei und ihrer (wie es die späteren Leninisten immer so gerne genannt haben) irgendwie verräterischen Führung, sondern das historische Versagen des Proletariats selbst, der arbeitenden Klassen, die 1914 marschiert sind, statt aufzustehen, sich für die Nation entschieden haben statt für die Befreiung, und hier vor allem das Versagen des deutschen Proletariats.
Keineswegs verhält es sich so, wie Marx im Manifest der kommunistischen Partei erklärte: dass die Geschichte eine Geschichte von Klassenkämpfen ist, die jedesmal mit dem Sieg der ausgebeuteten Klasse oder dem gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen endet. Die Sklaven des alten Roms haben ihre Aufstände gehabt, und sie sind geschlagen worden, und noch hunderte Jahre lang zu tausenden in den Bergwerken verreckt, ohne je wieder eine Gelegenheit zum Aufstand zu bekommen ausser als austauschbares Gefolge irrer Priester und lügnerischer Prätendenten. Eine ausgebeutete Klasse kann ihren Kampf auch einfach verlieren.
Diese Möglichkeit zeigt sich Luxenburg im August 1914: dass das Proletariat dem Weg dieser Gesellschaft in den Abgrund, in die Barbarei nichts entgegenzusetzen haben könnte; dass es sich von dem, was es sich in diesem Krieg antun wird, niemals erholen könnte, und dass es, nach all den Aufständen, reduziert werden wird auf ein Anhängsel der herrschenden Klassen, allzeit verfügbares, der Herrschaft bis in den Tod loyal folgendes lebendes Inventar. Und so ist es ja, wie es scheint, auch gekommen.
Die Organisation, die sie aufbaut, nennt sie nach Spartakus; und es scheint bisher niemand verstanden zu haben, dass dieser Name nicht grosssprecherischen Heroismus ausdrückt, sondern das verzweifelte Bewusstsein, dass es zu spät sein könnte und schon alles vergebens.
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Da ergibt sich, spät, aber vielleicht nicht zu spät, eine neue Chance; fast aus dem Nichts erhebt sich die vom Weltkrieg überrollte russische Revolution doch noch, sie reisst ein Loch in diese Welt des Unheils, und noch einmal hat völlig unverhofft das deutsche Proletariat die Möglichkeit, seine Entscheidung noch einmal zu treffen. Aber die russische Februarrevolution zögert, sie setzt den Krieg fort, sie kann sich, von inneren Kräften gelähmt, nicht zu einem grossen Anschlag auf das Elend entschliessen. Die Menschewiki und SR in den Räten sind zerrissen zwischen allgemeinem Vertragsfrieden (wie es die kaiserliche SPD anregt) und revolutionärem Krieg (mit den zaristischen Generälen an der Spitze).
Und das deutsche Proletariat marschiert weiter, und arbeitet weiter, und mordet und stribt weiter. Alles geht weiter. Die russische Revolution muss die provisorische Regierung abwerfen, den Krieg beenden, die Menschheit muss diese letzte entscheidende Probe wagen, dies letzte Mal die Gelegenheit bekommen, vor dem Abgrund zurückzuschrecken, in den sie sich doch schon geworfen hat.
Und was, wenn die russische Revolution das nicht von alleine getan hätte? Wenn die Oktoberrevolution der Geschichte und dem russischen Proletariat tatsächlich aufgezwungen werden musste durch den tyrannischen Willen Lenins und Trotskis? Wenn, mit einem Wort, der Gewalstreich vom Oktober als die Tat von Verzweifelten anzusehen wäre, die sich geschworen haben, dem Gang der Menschheit in den Abgrund jedenfalls nicht tatenlos zuzusehen, die schon über die Klippe gesprungene Menschheit doch noch, gewaltsam, an den Haaren gleichsam zurückzureissen zu versuchen?
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Das deutsche Proletariat hat auch danach versagt, es hat viel zu spät erst, zwei Monate nach dem Oktober, mit seiner Revolution angefangen, und es hat ein ganzes Jahr gebraucht, um den Kaiser loszuwerden, aber seine Generäle und seine Demokraten war es damit noch lange nicht los und ist sie nie losgeworden. Der Gang der Menschheit in die Katastrofe ist verzögert worden, in andere Formen gepresst, auch in die bolschwistische Form der Herrschaft. Gegen Lenin an die Selbsttätigkeit des Proletariats appellieren aber geht vielleicht doch nicht so einfach, wie es Daniel Kulla gerne hätte.
In der von linken SR-Kreisen damals ventilierten Option eines revolutionären Krieges gegen das deutsche Kaiserreich eine Urszene des antifaschistischen Widerstandes gegen den Nationalsozialismus zu sehen, bzw. in Lenins Frieden von Brest-Litowsk eine Vorform des Hitler-Stalin-Paktes, scheint mir auch nicht weit zu führen. Es wurde, von einem Diskussionsteilnehmer, die Regierung von Simon Petljura angesprochen, und andere Pogrombanden; der Einwand, genau mit solchen Leuten zusammen wäre ein solcher Krieg geführt worden, und genau gegen eine kaiserliche Armee, die dergleichen Pogromgesindel nämlich, wo sie stand, entwaffnet hat, hat durchaus Gewicht.
Die antisemitischen Pogrome hatten, vor allem im russischen Westen, damals überhaupt Dimensionen angenommen, die es unmöglich machen, sie für ein Randfänomen zu halten. Und es hat in allen „revolutionären“ Parteien, von den nationalen Separatisten über die Bolschewiki bis zu den Anarchisten, Pogromisten gegeben. Es gab sie seltsamerweise dort nicht, wo die kaiserliche Armee stand. Das ist ein gültiger Einwand, der aufs engste zusammenhängt mit der Frage, die Daniel Kulla ja doch aufgeworden hat: ob damals denn nicht eine historische Gelegenheit da gewesen wäre.
Das Prolatariat hat 1914 und danach, bis heute, immer wieder versagt, und die gründliche Selbstkritik des Proletariats, die Luxenburg zu Recht gefordert hat, kommt nicht um die Frage herum, warum das Proletariat versäumte, das historisches Subjekt zu werden, das es doch angeblich ist, und stattdessen den Krieg, den Leninismus und die Pogrome zugelassen hat. Bisher ist, ausser bei wenigen unter den Antideutschen, überhaupt noch nicht einmal ein Begriff dafür vorhanden, wie tief diese Selbstkritik führen wird.
Die Debatte ist mit meinem Beitrag auch nicht geschlossen, meinetwegen erst eröffnet; vielleicht wird man ja allgemein klüger. Die russische Revolution ist die erste in der Geschichte, die vor dem Problem stand, wie das Streben nach der Revolution sich am Leben hält, nachdem der Zeitpunkt ihrer Verwirklichung versäumt ward. (8)
(1) Oder, wie man heute modischerweise sagt, prokrastiniert; neuerdings gilt das als psychologisches Störungsbild, früher war es ehrwürdig, als löbliches Attribut des Berufsstands der Rechtsanwälte.
(2) Für falls es jemand noch nicht gehört hat: die russische Revolution ist nicht nur der Oktoberaufstand, der Lenin und Trotski an die Macht gebracht hat; ein halbes Jahr vorher hatte der Februaraufstand den Zaren gestürzt. Das Ergebnis dieses Umsturzes war eine das ganze Land immer mehr umfassende Organisation von Arbeiter- und Soldatenräten, die neben dem Staat eine selbständige Macht erobert hatten, und ohne deren Zustimmung in den meisten Fabriken und Truppenteilen nichts mehr entschieden werden konnte. In diesen Räten gab es verschiedene Parteien, unter denen sich die Bolschewiki im Laufe des Jahres durchsetzten, woraufhin sie, gestützt auf die Räteorganisation, die Macht ergriffen, und danach die Macht der Räte, das heisst des Proletariats, durch ihre eigene Macht ersetzten.
(2a) Die Bolschewiki in den Räten, das waren ja nicht, wie man sich das vorstellen könnte, die von der Partei aufgestellten und dann gewählten Kandidaten, sondern es waren diejenigen zu Delegierten gewählten Arbeiter, Soldaten und Bauern, die sich in den zwei oder drei alles entscheidenden Fragen zu dem Programm hielten, das Lenin aus anarchistischen, sozialrevolutionären und sonstwie zirkulierenden radikalen Forderungen zusammengestellt hatte. Das betraf die Neuverteilung des Landes, das Ende des Krieges (Auflösung der Armee) und die Errichtung der direkten Macht der Räte. Die Bolschewiki haben in allen drei Fragen früher oder später das Gegenteil getan.
(3) Man lese hierzu „10 Days That Shook The World“ von John Reed, der sich die Szenen, die er da beschreibt, ja auch nicht ausgedacht hat.
(4) Man beachte das charakteristische Vertrauen in die Organisation: dass von der Arbeiterklasse die Rede sein konnte, wenn von Parteien die Rede war, die im Namen dieser Klasse handelten. Hätte Lenin sich nicht zu Trotski bekehrt, hätte er auch einen sehr guten sozialdemokratischen Präsidenten einer russischen Republik abgegeben, der bürgerliche Regierungen einsetzt, ganz so präsidial wie Friedrich Ebert, und zuletzt ganz so vergeblich wie dieser. Der Unterschied war, dass jener, sehr despotisch, sich diesem Schicksal genausowenig fügen wollte, wie auf der anderen Seite die russischen Arbeiter bereit waren, sich raten zu lassen, wie sie ihre Ausbeuter selbst wählen und zu grösserer Effizienz anhalten sollten.
(5) Das Exekutivkomittee des Gesamtrussischen Räte-Kongresses fungierte als kollektives Staatsoberhaupt, wie ein Präsident, und übte die dem Räte-Kongress zukommenden Souveränitätsrechte aus. Es bestand aus Menschewiki und SR, die das sehr konstitutionelle Verständnis von Souveränität hatten, dass der Souverän herrscht, aber nicht regiert (reigne, main non gouverne pas).
(6) In ihrer bekanntesten Schrift über die russische Revolution, das heisst der letzten. Kein bisschen der einzigen. Sie stammte aus dem Königreich Polen, das damals russisch war, und hat seit 1904 konzentriert und ausdauernd über die russischen Ereignisse geschrieben. Wieviele ihrer Schriften heissen „Die russsische Revolution“? Sie hat sich schon mit Lenin gestritten, als der noch Plechanovs junger Mann war. Sie hat selbst eine illegale Organisation in Russland geleitet. Und sie hat, mit Wut und voller Verzweiflung, an die 20 Jahre den tauben Idioten in Deutschland versucht Ohren zu machen über das grunderschütternde, was in der kommenden russischen Revolution sich ereignen wird. Es hat ihr schon damals fast niemand zugehört. Die Katastrofe von 1914, für die unsere schlimmeres gewohnten Augen zu abgestumpft sind, hat sie sehend überstanden, ohne verrückt zu werden. Da sie in der Lage war, die Vorbeben der Revolution von 1918 als solche zu erkennen, entschied sie sich, am Leben zu bleiben und weiterzukämpfen; als die Revolution gekommen war, befahl die SPD, der die Revolution diktatorische Vollmachten übertragen hatte, ihre Ermordung.
(7) Alle bisherige Geschichte ist die Geschichte von Mord, von Unterdrückung und Ausbeutung. Wenn man es allein danach betrachtet, hat sich nie etwas geändert. Es gab aber einmal eine Zeit, wo diese Geschichte relativ leicht zu unterbrechen und völlig umzustürzen gewesen wäre, und diese Zeit beginnt ungefähr ab 1848 und endet 1914. Seither hat sich die Menschheit, wie es scheint, daran gewöhnt, dass die eigentlich abschaffbare Geschichte des Massenmordes einfach weitergeht, und sogar Ausschwitz hat geschehen können, ohne dass die Menschheit in diesem Alptraum endlich die Notbremse gezogen hätte.
(8) Ein überflüssiger kleiner Hinweis auf Adornos Einleitung zur Negativen Dialektik.
Jörg Finkenberger
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